Viele SchmerzpatientInnen haben im Rahmen einer langjährigen Behandlungsodyssee die Erfahrung gemacht, dass Ihnen von BehandlerInnen zu einer Psychotherapie geraten wurde, manchmal allerdings mit wenig hilfreichen Begründungen. Von ärztlicher Seite können Sätze gefallen sein wie „Ich finde nichts, gehen Sie mal zum Psychologen. Der findet sicher was.“ oder „Sie haben es nicht am Rücken, sondern im Kopf.“ In diesen Aussagen offenbaren sich nicht nur Wissenslücken über das Phänomen der Schmerzchronifizierung, sondern auch über die Zielrichtung und Inhalte einer speziellen Schmerzpsychotherapie.
In einer speziellen Schmerzpsychotherapie geht es nicht um das Suchen, Finden und Bearbeiten psychischer Ursachen einer Schmerzerkrankung. Der chronische Schmerz wird als ein komplexes biopsychosoziales Geschehen gesehen, mit körperlichen, psychischen und sozialen Einflussfaktoren. Ziel der psychotherapeutischen Behandlung ist es, die schmerzbedingten Beeinträchtigungen im Alltag zu reduzieren, die Lebensqualität zu verbessern und einen besseren Umgang mit dieser chronischen Erkrankung zu finden.
Schmerzen sind real und nicht eingebildet. Nichtsdestotrotz spielt das Gehirn die zentrale Rolle in der Schmerzverarbeitung. Schmerzen entstehen immer und ausschließlich im Gehirn und erst dort entscheidet sich, ob z. B. Signale, die aus dem Körper kommen, in einen Schmerz umgewandelt werden und wie stark dieser Schmerz ausfällt. Viele unterschiedliche Gehirnbereiche sind an dem Entstehen der Schmerzempfindung beteiligt. Dies hat zur Folge, dass viele Faktoren die Schmerzentstehung beeinflussen, die nichts mit den ankommenden Signalen aus dem Körper zu tun haben. Das Gehirn fungiert wie ein Filter- oder Schleusensystem. Signale können im Gehirn verstärkt oder reduziert werden. Wie gut unser Schleusensystem im Gehirn funktioniert, kann von vielen Faktoren abhängig sein. Selbst bei einem Akutschmerz nach einem Knochenbruch beeinflussen unterschiedliche Faktoren, wie z. B. die Stimmung oder der Aufmerksamkeitsfokus, wie stark die Schmerzen ausfallen. Weitere Faktoren, die das Schmerzerleben beeinflussen können, sind u. a. das allgemeine Wohlbefinden, das Stressniveau, der Grad der Anspannung, Vorerfahrungen mit Schmerz, Erwartungshaltungen, das Wissen über die Erkrankung und körperliche Aktivität/ Bewegung.
In einer Schmerzpsychotherapie kann es darum gehen, die individuellen Einflussfaktoren auf die Schmerzstärke und das Schmerzerleben zu erforschen, probeweise zu verändern und hinterher das Ergebnis zu bewerten. Wie das ablaufen kann, soll an einem Beispiel erläutert werden. Frau Müller hat seit der Jugend ca. einmal im Monat Spannungskopfschmerzen, die sie medikamentös behandelt hat. Nach einem schweren Autounfall mit diversen Verletzungen stellt sich bei ihr eine multilokuläre Schmerzsymptomatik ein, also Schmerzen an mehreren Körperstellen. Außerdem häufen sich Kopfschmerzattacken (zweimal die Woche). Der Schmerz wirkt sich negativ auf ihre Stimmung aus. Sie wird zunehmend niedergeschlagener und fühlt sich erschöpft und lustlos. Während sie bei der Arbeit versucht durchzuhalten und Fehlzeiten zu vermeiden, besteht ihre Freizeit überwiegend aus Schonverhalten. Sie kommt gerade noch so ihren Pflichten nach, schafft es aber nicht mehr, sich mit ihren Freunden zu verabreden oder ihren Hobbies (Radfahren, Walken) nachzugehen. Nach einer stationären multimodalen Schmerztherapie mit intensiver Physiotherapie, psychologischen Einzel- und Gruppenterminen und einer medikamentösen Neueinstellung beginnt sie eine schmerzspezifische ambulante Psychotherapie, um die Umsetzung des Gelernten in den Alltag zu erleichtern. In der stationären Schmerztherapie hat sie bereits ihr Wissen über Schmerz erweitern können und Möglichkeiten der Schmerzbeeinflussung kennen gelernt. Sie hat begonnen, sich mit dem Thema Entspannung (Atementspannung und Progressive Muskelentspannung) zu beschäftigen, ihr Schonverhalten und ihre Bewegungsängste abzubauen und ihre körperliche Belastbarkeit in kleinen Schritten zu steigern.
Im Rahmen der ambulanten Schmerzpsychotherapie führt sie den Abbau der Bewegungsängste fort, indem sie bisher vermiedene Bewegungen (z. B. Über-Kopf-Arbeiten im Haushalt) wieder ausführt und in winzigen Schritten steigert. Beim Walken beginnt sie mit zweimal zehn Minuten am Tag und steigert sich innerhalb von sechs Wochen auf zweimal 30 Minuten täglich. Sie beginnt, aus der Herkunftsfamilie stammende Lebensregeln („Ich muss immer funktionieren“, „Ich darf keine Fehler machen“, „Ich muss es allen anderen recht machen“) kritisch zu hinterfragen. Da die Schmerzerkrankung ihre bisherige Lebensplanung erschüttert hat und eine Neuausrichtung notwendig wird, erlaubt sie sich das Trauern um die verlorenen Möglichkeiten, um zu einer angemessenen Krankheitsakzeptanz zu finden und das Beste aus der aktuellen Situation zu machen. Zur Verringerung ihrer Anspannung nimmt sie sich in verschiedenen Lebensbereichen eine Reduktion ihrer perfektionistischen Ansprüche vor. Mit der Psychotherapeutin erarbeitet sie dazu eine sinnvollere Dosierung ihrer Aktivitäten, indem sie sich zuerst positive Dinge in ihren Tag einplant und die Haushaltspflichten und physiotherapeutischen Übungen in kleinen Einheiten dazwischen legt. Anstatt ihren Partner dazu anzutreiben, im Haushalt ihren höheren Standard mitzutragen, entscheidet sie sich dazu, ihm die Hoheitsgewalt über den Haushalt zu überlassen, so dass er bestimmen kann, in welchen Abständen z. B. geputzt oder gesaugt werden sollte. Dabei werden die Haushaltstätigkeiten auch stärker an die Kinder abgegeben, wobei sie es aushält, wenn diese die Aufgaben nicht entsprechend ihres eigenen Standards ausführen. Die unangenehmen Gefühle, die sich dabei zunächst bei ihr einstellen, lernt sie achtsam wahrzunehmen und macht dabei die Erfahrung, dass diese sich nach einer gewissen Zeit wieder abbauen. Statt Drei-Gänge-Menüs für Gäste zu kochen, bittet sie diese, verschiedene Speisen mitzubringen. Sie lernt, Pausen nicht erst dann zu machen, wenn sie eine Schmerzverstärkung erfährt, sondern diese vorsorglich einzuplanen. Bei der Arbeit reduziert sie ihr Arbeitstempo und passt sich etwas mehr dem langsameren Tempo ihrer Kolleginnen an. Außerdem versucht sie, ähnlich wie ihre Kolleginnen möglichst pünktlich ihren Arbeitsplatz zu verlassen und unerledigte Dinge liegen zu lassen. Mit der Psychotherapeutin übt sie Abgrenzungsstrategien („Neinsagen“) in Rollenspielen ein und erhöht ihre Konfliktfähigkeit, damit sie unliebsame Forderungen von außen besser abwehren kann. In diesem Zusammenhang erweitert sie ihr Repertoire an schlagfertigen Antworten, um mit den zahlreichen lästigen Sprüchen bei Schmerz (z. B. „Wie, du hast Schmerzen? Du siehst doch gut aus.“) gelassener umzugehen. Außerdem erarbeitet sie Gesprächsstrategien für den Umgang mit ärztlichen BehandlerInnen, um die begrenzte Zeit optimal nutzen zu können. Mit ihrer Familie einigt sie sich darauf, dass diese ihr zurückmelden soll, wenn sie zu viel nonverbales Schmerzverhalten (wie z. B. Stöhnen oder Seufzen) zeigt, um dieses dann wieder reduzieren zu können. Sie lernt, ihre Bedürfnisse und Gefühle direkt zu äußern und darauf zu verzichten, Dinge, die sie tun oder lassen möchte, mit Schmerzen zu begründen. Zur Erweiterung ihrer Ablenkungsmöglichkeiten probiert sie neue Hobbies aus und besucht z. B. einen Malkurs in der VHS. Kurze Atementspannungsübungen wendet sie regelmäßig an. Am Ende der Psychotherapie hat sie mehr Sicherheit und Selbstvertrauen im Umgang mit ihrer Schmerzerkrankung erlangt.
Die psychotherapeutische Behandlung von SchmerzpatientInnen auf der Grundlage eines biopsychosozialen Schmerzmodells setzt ein umfangreiches Wissen über chronische Schmerzstörungen und spezifische therapeutische Fertigkeiten voraus. Dies ist im psychotherapeutischen Bereich über die Fort-/Weiterbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ geregelt. Die Zertifizierung erfolgt bundesweit auf der Grundlage einer gemeinsamen Prüfungsordnung. Die Ausbildung ist PsychologInnen vorbehalten, die sich in einer Psychotherapieausbildung befinden bzw. diese mit der Approbation abgeschlossen haben. Die Liste an zertifizierten SchmerzpsychotherapeutInnen findet sich auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für psychologische Schmerztherapie und –forschung e. V. (www.dgpsf-verein.de).
Autor:
Dipl.-Psych. Helge Poesthorst, M. A.
Psychologische Psychotherapeutin (VT)
Spezielle Schmerzpsychotherapie
DRK Schmerz-Zentrum Mainz
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