Von der Hilflosigkeit zum aktiven Tun

Er schlich sich in mein Leben, ganz unspektakulär und ohne erkennbaren Grund setzte er sich in meiner rechten Schulter fest. Es war der Schmerz, er wurde mein ständiger Begleiter, tagsüber raubte er mir die Kraft und nachts ließ er mich nicht mehr richtig und erholsam schlafen. Ich war fest davon überzeugt, dass er irgendwann auch wieder gehen würde so, wie er gekommen war. Aber das blieb ein Wunschtraum. Ich entschloss mich, ihn mit Schmerzmitteln zu vertreiben, und so begann eine Odyssee durch die Arztpraxen der verschiedenen Fachbereiche. Kein Arzt konnte mir die Ursache für den Schmerz nennen, nicht einmal Vermutungen wurden geäußert. Meine Wege führten vom Hausarzt, über den Orthopäden zum Neurologen, dann erfolgte eine mehrmonatige Behandlung bei einer Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin, eine sehr erfolgreiche Symptombehandlung mit Spritzen; Ich schwebte jedes Mal wie auf Wolken aus der Praxis und war selig. Aber die Abstände zwischen den notwendigen Spritzen verkürzten sich von anfangs 4-6 Wochen immer mehr, und nach ungefähr einem Jahr wurde mir klar, dass es so nicht weitergehen konnte. 

 

Im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit, die mich in viele Krankenhäuser führte, fand ich heraus, dass es in unserem örtlichen Krankenhaus eine Schmerz-ambulanz gab; ein für mich damals völlig unbekannter Begriff. Aber er signalisierte mir, dass ich dort Hilfe finden könnte. Der Leiter der Ambulanz verschrieb mir ein sehr wirkungsvolles Mittel. Ich nahm es einige Monate, bis es vom Markt genommen wurde, weil es Herzinfarkte auslösen könnte. (Auch das durfte ich dann später noch erleben, als ich einen schweren Herzinfarkt erlitt). Nach dieser Behandlung begann die Therapie mit Opioiden, relativ wirkungsvoll aber mit den bekannten Nebenwirkungen, wie Müdigkeit, Verstopfung und Übelkeit. Das Positive war aber, dass sich meine Schmerzen deutlich verringerten.

Meine Suche nach dem Grund für die Schmerzen aber blieb erfolglos. Kein Arzt erklärte mir, was den Schmerz verursacht. Ein Radiologe teilte mir nach einem MRT zwar mit, dass mir durch eine Operation am Schultergelenk geholfen werden könnte, verneinte aber die Notwendigkeit, weil ich ja kein Berufssportler sei (?!). Also quälte ich mich weiter durch mein sehr eingeschränktes und bescheiden gewordenes Leben. Der ununterbrochene Ruheschmerz in der Schulter schränkte mich nicht nur in der Bewegungsfähigkeit ein, sondern ließ auch keine anderen Aktivitäten mehr zu. Das führte zum sozialen Rückzug und zur Vereinsamung. Die depressiven Phasen wurden immer länger und stärker, und mir wurde wieder einmal klar, dass ich etwas verändern musste, wenn ich nicht die Kontrolle über mein Leben verlieren wollte. Im Internet stieß ich auf die Website einer Schmerzklinik und nahm sofort Kontakt auf. Relativ schnell bekam ich einen Aufnahmetermin und war – wie so oft vor Beginn einer neuen Behandlung – sehr hoffnungsvoll. Das Ergebnis dieses Krankenhausaufenthalts war für mich jedoch ziemlich enttäuschend. Die Behandlung beschränkte sich im Wesentlichen auf das Testen verschiedener Medikamente und deren Dosierung. Andere Therapie-verfahren, wie z. B. Psycho- oder Physiotherapie fanden nur in sehr bescheidenem Maße statt und brachten darum keine erkennbaren Verbesserungen. Für mich war das Endergebnis lediglich die ärztliche Feststellung, dass die Opioid-Therapie die einzig wirksame Möglichkeit für mich ist. Die nicht medikamentösen Therapien schieden aus, weil sie keine Wirkung zeigten.  

 

Mein psychischer Zustand, verschlechterte sich in der Zeit sehr stark. Der ständig vorhandene Schmerz, das immer stärker werdende Gefühl der Hilflosigkeit und vor allem die Erfahrung, dass kein Arzt mir helfen kann, zwangen mich zu der Erkenntnis, dass ich diesem Schmerz nur dadurch entrinnen kann, wenn ich mein Leben beende. Hoch selbstmordgefährdet hat mich meine damals behandelnde Scherztherapeutin in eine psychosomatische Klinik eingewiesen. Dort wurde ich u. a. durch einen, der damals sehr seltenen Spezies, einem Schmerz-Psychotherapeuten behandelt.Er schaffte es, mir klar zu machen, dass ich meinen chronischen Schmerz nie mehr loswerden würde. Meine Illusion, er müsste wieder so weggehen, wie er gekommen ist, wurde mir genommen. Ich lernte, dass ich den mir eigentlich fremden Schmerz, als einen Teil von mir und meinem zukünftigen Leben annehmen müsste. Das war ein sehr schwieriger Prozess, doch ich schaffte es durch viele Therapeutengespräche, einzeln und in Gruppen und gewann dabei die Erkenntnis, dass ich durch eigene Aktivitäten meinen Schmerz beeinflussen kann. Nicht die Selbstbemitleidung oder das sinnlose Warten auf Veränderungen helfen mir weiter, sondern die eigene aktive Bearbeitung meines Schmerzproblems führen zum Erfolg. Denn die eigenen Aktivitäten lenkten mich vom Schmerz ab, sie drängten ihn in den Hintergrund und so konnte er nicht mehr ausschließlich meinen Alltag bestimmen. Meine Aktivität erzeugte positive Gedanken, manchmal auch Glücksgefühle, und die überlagerten die negativ behafteten Bereiche im Schmerzgedächtnis. 

 

In den Gruppengesprächen habe ich gelernt, meine Hilflosigkeit nicht zu verbergen, sondern offen auch über meine Gefühle und Gedanken zu sprechen. Hier konnte ich auch erfahren, dass ich nicht der einzige Mensch bin, der diese Geißel ertragen musste. Ja, es gab sogar Menschen dort, denen es noch viel schlechter ging als mir. 

 

Ich fing an, den Schmerz zwar nicht als Freund, aber als Teil meines Lebens zu akzeptieren. Ich pflegte ihn nicht, aber ignorierte ihn auch nicht. Er war da und ich arrangierte mich mit ihm. Und ich erlebte ein Wunder: Ich wachte eines Morgens auf und war völlig schmerzfrei. Ohne jegliche Veränderungen in der Schmerzmedikation. Ich war glücklich! Leider nur einen Tag. Am nächsten Tag war er wieder da, unverändert und gleich stark. Aber ich hatte einen Tag Urlaub vom Schmerz und konnte dabei fühlen, wie das Leben sein kann, und mir wurde klar, dass es einen Weg aus der Schmerzfalle geben kann.

 

Diesen Weg suchte ich und fand ihn. Nach mehrmonatigem Aufenthalt in der psychosomatischen Klinik und Rückkehr in mein häusliches Leben suchte ich nach so einer Gruppe, wie ich sie in der Klinik kennengelernt hatte. Aber in meiner näheren Umgebung fand ich keine geeignete Selbsthilfegruppe. Und so entschloss ich mich, eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit chronischen Schmerzen zu gründen. Es begann mit der Suche nach einem geeigneten Raum, wobei die örtliche Kontaktstelle schnell helfen konnte. Der ersten Flyer, den ich entwarf und selbst ausdruckte, sah noch etwas unbeholfen aus. Er hatte aber trotzdem Wirkung. Nachdem ich ihn in den Wartezimmern verschiedener Ärzten ausgelegt hatte, erhielt ich die ersten Anfragen. Schon bald konnte ich einen Termin für das erste Treffen bekannt geben. Auch die örtliche Presse war bereit, meine Einladung zu veröffentlichen. So entstand in unserer Stadt die wohl erste Selbsthilfegruppe für Menschen mit chronischen Schmerzen. Dieses zunächst kleine Grüppchen von 3-4 Personen war die Keimzelle für eine langsam aber kontinuierlich wachsende Gemeinschaft von Menschen, die sich untereinander austauschten und sich gegenseitig Mut machten. Danach habe ich mich weiteren Aufgaben in der Selbsthilfearbeit gewidmet und dabei die Erkenntnis gewonnen, dass die Arbeit in und mit den Selbsthilfegruppen ein sehr wirkungsvolles Therapeutikum gegen den Schmerz ist. Die Aktivitäten und fast täglichen Herausförderungen durch den Kontakt mit anderen Schmerzpatienten haben mich so stark beschäftigt, dass mir kaum Zeit zur eigenen Nabelschau blieb, und ich so von meinen Problemen abgelenkt wurde. Außerdem erwarb ich durch Gespräche mit anderen Betroffenen, aber auch durch die Lektüre einschlägiger Bücher und Fachzeitschriften, Kenntnisse über die Entstehung des Schmerzes und über die Abläufe im Körper, über Schmerzbahnen und die unterschiedlichen Schmerzarten. Die Erkenntnis, dass der Schmerz im Gehirn entsteht, hat mich dazu gebracht, auch den psychologischen Aspekt in meine Strategie der Schmerzbewältigung einzubeziehen. Ich lernte etwas über multimodale Schmerztherapie und Entspannungstechniken. Ich erfuhr von der Möglichkeit, dass man seine Schmerzen in einem sogenannten Schmerzbewältigungstraining sehr erfolgreich reduzieren kann. Durch meine eigenen Aktivitäten wurde ich zum Experten meiner Krankheit und kann heute meine Erfahrungen und mein erworbenes Wissen an andere weitergeben. Meine Schmerzen haben sich bis heute soweit verringert, dass ich keine Schmerzmedikamente mehr benötige, und ich wieder ein normales Leben führen kann. 

 

Zusammenfassend kann ich heute sagen, dass die mir ursprünglich vermittelte „Tatsache“, mein Schmerz würde mich ein Leben lang begleiten, nicht ganz zutreffend war. Ich durfte erfahren, dass ich ihn, den Schmerz durch eine positive Grundeinstellung und daraus möglich werdenden eigenen Aktivitäten sehr positiv beeinflussen kann. Es gilt, den Teufelskreis „Schmerz – Angst – Depression“ zu durchbrechen, was selten ohne fremde Hilfe und Unterstützung geht. Bei mir haben die Ärzte und Psychologen zunächst die Weichen gestellt, dass ich in die richtige „Spur kam“, und danach konnte ich selbstständig das Erreichte festigen, indem ich im Rahmen der Selbsthilfearbeit den Kontakt mit anderen Betroffenen pflegte und weiter ausbaute.

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Von der Hilflosigkeit zum aktiven Tun
Hier lesen Sie, wie ein Schmerzpatient von der Hilflosigkeit zum aktiven Tun fand.
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