Meine Geschichte beginnt mit einem Fahrradunfall, den ich als Studentin auf dem Heimweg von der Universität hatte. Auf dem Fahrradweg, den ich vorschriftsmäßig befuhr, wurde ich an einem ampelgesicherten Überweg von einer Autofahrerin angefahren, die mich zunächst überholte und dann beim Abbiegen nach rechts mich als geradeaus fahrende Radfahrerin nicht sah. So kam es zu einem heftigen Anprall hauptsächlich meines linken Beins. Die Autofahrerin kurbelte das Fenster herunter – und gab Gas. Ein Mann drückte mir einen Zettel mit dem Autokennzeichen in die Hand. Plötzlich floss der Verkehr wieder. Ich fühlte mich verlassen und war geschockt. Meine größte Sorge galt meinem hart ersparten und etwa zwei Wochen vor dem Unfall gekauften Fahrrad. Dass mit meinem Bein etwas nicht in Ordnung war, merkte ich am Rande auch, aber es erschien mir zunächst nicht so wichtig zu sein. Richtige Schmerzen verspürte ich erst am nächsten Tag. Dann begab ich mich in dieBehandlung eines Orthopäden. Der erkannte die Schwere der Verletzung nicht und meinte, ich solle mich einige Tage ins Bett legen, dann würde es schon wieder gehen. Es besserte sich aber nicht so, wie er es vorhergesagt hatte. So wurde ich in den nächsten Monaten mehrfach arthroskopiert, d. h. die Ärzte schauten durch einen kleinen Schnitt mit einer Optik in das Kniegelenk hinein. Es gab widersprüchliche Befunde, die von Operateur zu Operateur variierten. Dann stand es fest, dass der Innen-Meniskus abgerissen war, außerdem sollte es Schäden an den Bändern geben, die man aber nicht operieren konnte. Auch der Knorpel war beschädigt. Der Innen-Meniskus sollte in einer offenen Operation wieder angenäht werden. Jahre später erfuhr ich, dass das längere Zeit nach dem Unfallereignis gar nicht möglich ist. In der Aufklärung vor dieser Operation schloss ich eine Entfernung oder teilweise Entfernung des Meniskus aus, weil ich Sorge vor Folgeschäden hatte. Die Operation erfolgte, und angeblich wurde der Meniskus erfolgreich wieder angenäht. Etliche Jahre später allerdings wurde eine weitere Arthroskopie in einer anderen Klinik vorgenommen. Dabei stellte man einen fachgerecht entfernten Meniskus fest, der aber „offiziell“ nie entfernt wurde…
Jedenfalls begann eine der OP-Wunden zu eitern, und ich bekam plötzlich hohes Fieber. Die entstandene Fistel an der Innenseite des Knies wurde herausoperiert. Großes Glück war es, dass das Kniegelenk durch die Entzündung keinen zusätzlichen Schaden genommen hatte. Nach der Fisteloperation hatte ich „seltsame Schmerzen“, nämlich an der anderen Seite des operierten Knies, also an der Außenseite. Als ich das den Ärzten im Krankenhaus sagte, taten sie meine Schmerzen ab. Sie teilten mir mit, dass das gar nicht sein kann. Ich verspürte aber ganz sicher diese Schmerzen, die sich im Lauf der nächsten Monate noch intensivierten und manchmal auch blitzartig mit einer hohen Intensität in das Bein hineinschossen, so dass ich oft zurückzuckte. In solchen Situationen konnte ich als Autofahrerin auch die schon getretene Kupplung nicht halten, so dass mein Auto manchmal an einer Ampel nach vorne schoss und dann ausging. Hinzu kamen weitere Symptome, wie z. B. das Gefühl, dass Tropfen an dem betroffenen Bein herunter laufen, eine Art „schmerzhaftes Jucken“ sowie Farbveränderungen in dem betroffenen Gebiet, die mal die Haut rot, manchmal auch blau aussehen ließen. Auch eine erhebliche Berührungsempfindlichkeit stellte sich ein. Teilweise konnte ich nicht mal den Stoff der Hose über der Stelle ertragen. Nachts wachte ich bis zu 50mal auf, wenn ich im Schlaf unabsichtlich an diese Stelle kam.
In der kommenden Zeit machte ich das, was man „Ärzte-Hopping“ nennt. Ich suchte viele Ärzte verschiedener Fachrichtungen auf. Von manchen wurde ich mit meinen Beschwerden nicht mal ernst genommen. Einer sagte mir sogar, dass ich wohl auf eine Entschädigung aus sein, entweder von der Autoversicherung oder von der Berufsgenossenschaft, die als Kostenträger auch heute noch für diesen Wegeunfall eintritt. In dieser Zeit verschlechterte sich mein psychischer Zustand. Ich haderte mit dem Unfallereignis: „Warum gerade ich? Warum konnte ich nicht zu einer anderen Zeit diesen Weg befahren? Wieso habe ich Schmerzen, die die meisten Ärzte nicht mal behandeln?“ Auch machte es mir zu schaffen, dass sich die Autofahrerin, die durch das Autokennzeichen ermittelt werden konnte, nie bei mir entschuldigte.
Ein gewaltiges Selbstmitleid baute sich auf. Ich kapselte mich immer weiter von Freunden ab. Große Sorgen machte ich mir auch um meine berufliche Zukunft. Ich stand vor einer wichtigen Laufbahnprüfung. Wenn ich diese nicht bestehen würde, war mein Studienabschluss wertlos.
Mein Halt in dieser Zeit war mein damaliger Hausarzt, der mich mit großem Engagement auch psychisch aufbaute. Er gab zur Schmerzlinderung Spritzen mit einem örtlich betäubenden Mittel an den Nerven.
In der Folgezeit begab ich mich zu einem Schmerztherapeuten. Dieser nahm mich nicht nur ernst, sondern erklärte mir auch, dass ich unter Nervenschmerzen leide, die durch die Verletzung eines Nervs bei der Operation entstanden sind. Er schaffte es aber auch „nur“, die Schmerzen zu lindern und schickte mich zu einem Neurochirurgen in eine weiter entfernte Stadt. Dieser zerstörte den geschädigten Nerven teilweise, indem er durch eine Sonde, die er an den Nerven führte, flüssigen Stickstoff leitete, der etwa minus 100 Grad kalt ist. Diese Methode war bei mir insofern erfolgreich, dass die Schmerzen für bis zu drei Monate gelindert waren. Nach dieser kurzen Zeitspanne erholte sich der Nerv immer wieder. Er durfte aber nicht komplett zerstört werden. So wurde diese kleine Operation etwa alle drei Monate wiederholt. Insgesamt etwa 60 bis 70mal wurde sie von verschiedenen Ärzten durchgeführt. Diese führten natürlich immer wieder zu Fehlzeiten in meinem Beruf. Die wichtige Prüfung hatte ich bestanden und wurde beruflich in eine fast unkündbare Stellung übernommen.
Nach einiger Zeit las ich eine Anzeige von einer Schmerzklinik. Dort stellte ich mich ambulant vor. Während dieser Konsultation fühlte ich mich sehr gut aufgehoben und ließ mich dort stationär behandeln. Zu meiner großen Überraschung half mir dieser Aufenthalt, bei dem ich eine multimodale Schmerztherapie erhielt, entscheidend. Die Behandlung umfasste medizinische Behandlung mit Schmerzmitteln aber auch Kältetherapie, psychologische Einzeltherapiestunden, Physiotherapie und Bewegungseinheiten nach genauer Anleitung. Dort bekam ich so viele Anregungen, anders mit meinem Schmerz umzugehen, nämlich beispielsweise ihn zu akzeptieren, was ja eine Linderung keineswegs ausschließt. Wichtig war es für mich, dass mir von allen Berufsgruppen der Schmerz „geglaubt“ wurde, was ich vorher so bei vielen Behandlern nicht erlebt hatte. Der Chefarzt hatte ein großes Schild in seinem Zimmer, auf dem stand: „Schmerz ist immer das, was der Patient sagt.“ Dieser Spruch hing so, dass sowohl der Patient als auch der Arzt das immer sehen konnten. Auch lernte ich durch die Gespräche mit einigen Patienten, dass ich nicht auf der Suche nach Zuwendung bin, denn mich stießen die Verhaltensweisen von einigen Patienten ab, die mich beispielsweise fragten: „Geht es Ihnen auch so schlecht wie mir?“ Ich wollte, dass sich meine Schmerzen bessern, und ich verstand, dass ich selbst den größten Anteil daran trage, indem auch ich meine Schmerzen ernst nehme und so mich auch nicht überfordere, sondern mir auch zugestehen darf, dass ich an einem Tag, wenn die Beschwerden schlimm sind, mal nicht funktioniere. Bisher dachte ich, ich müsse immer alles gut machen. Dies bestand für mich darin, dass ich „funktioniere“.
Ein Arzt sagte mir in der Schmerzklinik einmal, dass ich wohl immer Schmerzen haben werde. Ich sollte aber versuchen, mich nicht vom Schmerz beherrschen zu lassen, sondern meine eigene Schmerzmanagerin zu werden. Das war mein erstes großes „Aha-Erlebnis“. In der folgenden Zeit begann ich zu lernen, dass ich mich nicht von meinen Schmerzen regieren lasse, sondern auch eine Verantwortung für meine Befindlichkeit trage. Heute bin ich darin ein großes Stück weitergekommen, aber ich arbeite immer noch daran. Mir wurde auch nahe gebracht, dass ich das tun solle, was mir Spaß macht. Erst viel später habe ich verstanden, dass sich dadurch auch meine Einstellung zu den Schmerzen verbessert, indem ich meine Aufmerksamkeit auf etwas Positives richte und so aus den negativen Gedanken hinauskomme. In der Schmerzklinik erfuhr ich auch, dass es hilft, sich zu bewegen. Bisher wurde mir immer geraten, mich zu schonen, wenn es weh tut. Nun lernte ich, dass jeder Mensch Bewegung braucht und dass eine dosierte Bewegung sich sogar positiv auf meine Schmerzen auswirkte. Bei der Wassergymnastik während der stationären Therapie lachten wir sogar viel. Diese „positive“ Bewegung (wenn ich es so nennen darf) tat mir so gut, dass ich heute immer noch begeistert Wassergymnastik mache.
Wenn die Schmerzen stark sind, kann ich auch heute noch nicht richtig das Bein belasten und auch nicht komplett bewegen. Wenn mir der Schmerz mal wieder heftig blitzartig ins Bein schießt, bin ich auch schon gestürzt. Vor einigen Jahren habe ich mir deswegen mal den Fuß gebrochen. Teilweise habe ich auch das Gefühl, dass ich mit meinen Mitmenschen während der Schmerzattacken ungeduldiger bin. Dieses Problem konnte ich aber ausführlich mit meinen Freunden besprechen, so dass dies nun für mich keine so große Belastung mehr darstellt. Und ich habe ja auch erfahren, dass ich nicht immer funktionieren muss.
In der Zeit nach dem ersten Schmerzklinikaufenthalt wurde ich als Patientin immer selbständiger. Dazu gehörte auch, dass ich es lernte, mir diese betäubenden Spritzen selbst in den Oberschenkel zu setzen. Das erforderte am Anfang zwar viel Überwindung, aber ich wurde dadurch unabhängiger von dem Hausarzt und von seinen Sprechzeiten. So konnte ich mir nun bis zu 6mal am Tag diese Spritze selbst geben, wenn nötig sogar nachts. Die Schmerzstärke war immer noch hoch, aber ich konnte ja selbst spritzen, und somit wurden die Auswirkungen der Schmerzen auf meine Lebensqualität geringer.
Bei einem zweiten Aufenthalt in dieser Klinik nach etwa einem Jahr nahm ich an Treffen einer Schmerz-Selbsthilfegruppe teil, die sich in dieser Klinik traf. Dort hatte ich ein weiteres „Aha-Erlebnis“, denn es entstand ein Austausch mit einer Frau, die dasselbe Problem hatte wie ich: Wenn sie sich an ihrer Arbeitsstelle wegen der Schmerzen krank meldete, befürchtete sie, dass ihre Kollegen hinter ihrem Rücken schlecht über sie redeten. Dies hatte ich auch schon erlebt, denn meine und auch ihre Schmerzen sieht man nicht. Bisher konnte ich so etwas nur mit den Ärzten besprechen, die mir zwar professionellen Rat geben konnten. Aber ein Austausch mit einer anderen Betroffenen war für mich viel wertvoller, denn wir sprachen gemeinsam darüber, dass wir unsere Mitmenschen viel mehr über unsere Einschränkungen aufklären sollten, damit sie ein Mindestmaß an Verständnis entwickeln. Als ich nach Hause kam, schloss ich mich einer Selbsthilfegruppe in einer etwa 40 Kilometer entfernten Stadt an. Die Fahrten in die andere Stadt wurden mir bald zu viel. Deswegen beschloss ich, in meiner Stadt eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Dazu nahm ich Kontakt mit der örtlichen Selbsthilfeberatungsstelle auf. Daraus entwickelte sich eine bis heute sehr gute Zusammenarbeit. Die geschulten Mitarbeiterinnen konnten der neuen Gruppe einen Raum kostenfrei zur Verfügung stellen, beim Formulieren einer Pressemitteilung wurde geholfen, auf Wunsch hätten wir für die ersten Sitzungen Hilfe bei der Moderation erhalten können. Wenn es Probleme in der Selbsthilfegruppe gibt, können wir uns auch heute noch jederzeit an die Beratungsstelle wenden. In den bis jetzt zwölf Jahren, die unsere Selbsthilfegruppe besteht, habe ich gelernt, was meine Situation als Schmerzpatientin verbessert. Einerseits werden wir immer mehr zu „Experten unserer eigenen Erkrankung“ und können dadurch mehr auf Augenhöhe mit unseren Behandlern sprechen. Mit am wichtigsten ist mir jedoch, dass wir durch unsere Gespräche, die absolut vertraulich sind, ein größeres Selbstbewusstsein als Schmerzpatienten aufbauen. Mir passiert es nicht mehr, dass ich von einem Arzt nicht ernst genommen werde! Das hat auch damit zu tun, dass ich meine Beschwerden nun ganz anders, mit mehr Selbstsicherheit, vortragen kann. Sollte es ein Arzt sein, der so etwas nicht ernst nehmen sollte, würde ich auch diesen nicht weiter aufsuchen. Es freut mich auch, wenn ich Teilnehmer unserer Selbsthilfegruppe dabei beobachten kann, wie diese andere Menschen aufklären und ihr inzwischen großes Patientenwissen weitergeben, beispielsweise wenn unsere Selbsthilfegruppe einen Informationsstand hat, wie beim Tag der Offenen Tür in unserem Krankenhaus oder beim Aktionstag gegen den Schmerz.
Ich merke, dass sich meine Sichtweise auf mein Leben, so wie es mit den Schmerzen ist, positiv verändert hat. Ich kämpfe nicht länger gegen die Tatsache an, dass ich Schmerzpatientin bin, sondern kann das akzeptieren. Dadurch sind viele Energien bei mir frei geworden, die ich in die Selbsthilfearbeit stecken kann und oft als Freude zurückbekomme. Dadurch ist mein Glas Wasser nicht mehr halb leer sondern halb voll.
Autorin: Eine Schmerzpatientin